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@Vanstor Freunde! Fremde!
Die Menschheit wird nie wieder sein wie vor zwei Minuten. #Ausnahmezustand| @birgi_Maus Erinnert ihr euch an 9/11? Seid ihr alt genug für den Fall der Mauer? Dies ist wieder so ein Moment. #FernseherEin | @AngelBlondePierre Küss ein fremdes Mädchen. Mach nen BASE jump. Irgendwas Geiles. SOFORT! Du wirst noch deinen Enkelkindern erzählen, was du JETZT getan hast. | @SaintHelenRT #WTF = WHAT THE FAX! | @beaStars Ich wusste es. Ich wusste es. Ich wusste es. Immer habe ich es euch gesagt. Und ihr habt nur gelacht. #Roswell #TheyAreHere | @NASA This is the most important leap, since Neal Armstrongs famous step. #BreakingNews | @veitnotfight 18.30. Rushhour. Alle Straßen leer. Wie am Heiligen Abend. Oder nach einem Atomunfall. #Ausnahmezustand | @the_anchorwoman Außerirdische schicken ein Fax an die wichtigsten Medienstationen der Welt. Sie nennen sich die Lalaaren. #BreakingNews | @dergrosseauswien Außer Faxe lieben sie übrigens Modern Talking, Achselhaare und ALF. Also alles gut. wir sind ihnen 30 Jahre voraus. #BackToTheFuture | @theansweris42 Wer einen echten BEWEIS kennt, dass die Lalaaren existieren hebe die Hand. #MedienHype #FakeNews
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Ein Sommer im Ausnahmezustand

Nie werden sie vergessen, was sie gerade getan haben, als die hysterische Nachrichtenflut des 13. Juni über sie hereinbrach. Ausgerechnet ein Fax soll den Lauf der Geschichte verändern. Die NASA bestätigt: Das Fax stammt nicht von der Erde. Die rätselhaften Absender schicken weitere Botschaften. Sie scheinen die Zukunft zu kennen, manipulieren Aktienkurse von Ölkonzernen und prophezeien der Menschheit ihren Untergang. Die Welt steht in ihrem Bann. Der Kampf gegen die Klimakatastrophe wird über Nacht zum existenziellen Thema.

„Ausnahmezustand“ folgt fünf Menschen durch einen Sommer, der die Welt aus ihren Angeln hebt. Die Klimakämpfer Daniel und Vera wünschen sich ein Kind, obwohl sie mit einem Bein im Gefängnis stehen. Beate bekommt durch den Alien-Hype zum ersten Mal einen Job als Astronomin. Ihr Freund Pierre verliert seinen durch ein Fax. Und auf der anderen Seite der Erde weigert sich der Satellitentechniker Ray beharrlich an die Existenz der Außerirdischen zu glauben.


Der neue Roman von Thomas Aiginger


Leseprobe

Daniel

Seit zwei Tagen warteten sie. Sie schliefen auf dem marokkanischen Teppich vor dem Fernseher, legten ihre Handys nicht mal beim Essen aus der Hand, aktualisierten alle zwei Sekunden ihre Twitter-Timeline. Es konnte jeden Moment geschehen. Oder nie. Nachts, wenn Daniel vor Anspannung nicht schlafen konnte, massierte Vera seinen nackten Oberkörper. Seine Schultern fühlten sich an wie das Stahlgehäuse eines Roboters. Um ihn abzulenken, hatte sie ihn auf den Yppenplatz geschleppt, zu dem Flohmarkt für die Hochwasseropfer. Der wohltätige Zweck war Vera egal. So tragisch die Zehntausenden obdachlosen Mitteleuropäer sein mochten, andere Menschen auf diesem Planeten brauchten weit dringender Hilfe.

„Daniel“, flüsterte Vera, „schau.“

Auf dem ganzen Platz griffen die Menschen in ihre Taschen, bildeten Grüppchen, starrten ungläubig auf ihre Smartphones. Daniels Nervosität schien auf einen Schlag verflogen. Breitbeinig überblickte er den Platz, mit braunem Vollbart, in einem verschlissenen Greenpeace T-Shirt.

„Und?“, fragte Daniel. „Besser als Fallschirmspringen?“

„Nein“, antwortete Vera. „So fühlt es sich an, ohne Schirm aus einem Flugzeug zu springen.“

Sie tastete nach dem Handy, doch Daniel schüttelte den Kopf und verschränkte seine Finger in ihre. Sie folgten der Menge, die zur hinteren Ecke des Marktes strömte, wo ein türkischer Händler versuchte, einen gebrauchten Fernseher in Gang zu setzen. Vera zitterte. Keine Sekunde länger hielt sie das aus. Sie riss ihr Handy aus der Tasche. Ein einziger Blick auf cnn.com genügte: Der Moment war gekommen, an dem Science-FictionFantasien wahr zu werden schienen. Der Moment, der sich in das kollektive Gedächtnis brennen würde wie 9/11, der Fall der Mauer, die Landung auf dem Mond. Nie würden sie vergessen, was sie gerade taten, als die hysterische Nachrichtenflut des 13. Juni über sie hereinbrach.

Pierre

Vergeblich tasteten Pierres Finger nach dem weichen Satin ihres Pyjamas. Ausnahmsweise hatte er nichts Unanständiges im Sinn. Er wollte sich bloß wieder in den Schlaf wiegen lassen, von dem sanften Rhythmus, in dem Kerstins Bauch sich hob und senkte.

Pierre öffnete die Augen. Zum ersten Mal seit Jahren lag er allein im Bett. Die Sonne brannte ihm ins Gesicht, als wolle sie beweisen, dass auch mit ihr nicht zu spaßen sei, dass sie genauso unbarmherzig sein konnte wie die stahlblauen Wolken, die in den letzten Wochen das halbe Land unter Wasser gesetzt hatten. Ihm in seinem Dachgeschoß war das Hochwasser egal. Und auch die Sonne konnte ihm nichts anhaben. Mit einem Tastendruck ließ er die Jalousien herunter. Pierre streckte jede Faser seines Körpers, bevor er sich in der Mitte seiner UltraKing-Size-Matratze zusammenrollte. Das war Freiheit! Sein Vergnügungspark gehörte ihm wieder alleine.

Nach einer halben Stunde blinzelte er auf die Laserprojektion an der Wand: 13. Juni - 05:42. Wieso konnte er nicht mehr schlafen? Irgendetwas beunruhigte ihn.

Auf dem Weg in die Küche ließ Pierre den Fernseher aus der Holzverkleidung gleiten. Mit einem duftenden Espresso in der einen und seinem iPad in der anderen Hand setzte er sich auf die Couch, die nackten Fersen auf dem kühlen Edelstahltisch, und zappte durch die Kanäle. Niemand nörgelte, weil er alle zwei Sekunden weiterschaltete und gleichzeitig mit dem iPad spielte.

Natürlich hätte er schon jetzt in die Arbeit fahren können, doch sein Meeting begann erst um zehn. Nichts reizte ihn, früher an seinem Laptop zu sitzen, um vorgeblich Datenmodelle zu entwickeln, deren Ergebnisse seit drei Monaten feststanden.

Gegen neun Uhr wälzte Pierre sich von der Couch und ließ den Fernseher zu der offenen Waschinsel in der Mitte seines Lofts schwenken. Er rasierte sich, verteilte ein wenig Gel in seinen sonnenblonden Haaren und zerzauste sie mit den Fingern.

Als Pierre hinter die schwarz-glänzende Kunststofffront trat, die den Schrankraum vom restlichen Loft abtrennte, spürte er einen Stich in der Magengrube. Die leere Hälfte des Kastens sah nach Scheitern aus, nach Konkurs und Räumungsverkauf. Pierre bemerkte, dass mit Kerstins Kleidern auch ihr Duft aus seiner Wohnung verschwunden war. Er schnupperte an den nackten Regalbrettern. Sie rochen bloß nach geleimtem Holz. Pierre entschied sich für ein frisches Paar Jeans von Hugo Boss. Seinen Oberkörper zwängte er in ein schwarzes, kurzärmliges Slim-Fit-Hemd und ein hellbraunes Sakko, was ihm einen kompetenten Look verlieh. Schließlich hatte er eine Rolle zu spielen.

In der Arbeit besserte sich seine Laune kaum. Mittlerweile hasste er seinen Job. Nicht, dass ihm die Lügen Skrupel bereitet hätten. Dafür wurde er fürstlich entlohnt. Es war die Langeweile, die ihn zermürbte. Wenn das noch länger so weiterging, hatte er bald das Internet ausgelesen. Als er am Nachmittag das Büro verließ, hatte er trotzdem noch keinen Plan für den Abend.

Daheim schob er den Wohnungsschlüssel in die kleine Buchse neben seinem privaten Aufzug, der ihn nonstop in sein Wohnzimmer beförderte. Rund um die holzgetäfelte Kabine zog sich ein Panoramabild von Pierres Loft während der unterschiedlichen Bauphasen. Am rechten Ende standen Pierre und Kerstin nackt in der fertigen Wohnung. Pierre betrachtete Kerstins blonde Haare, die sich über ihren geschwungenen Rücken ergossen, die perfekte Bucht ihrer Taille, den Ansatz ihres Pos. Ihr Körper war eine Zehn, daran bestand kein Zweifel.

Pierre ließ sich auf die Couch fallen und schaltete den Fernseher ein. Unten zog irgendein Text durch das Bild. Pierre ignorierte ihn und griff nach seinem iPad.

Plötzlich explodierte seine Twitter-Timeline. Hunderte Tweets in einer Minute. Pierre hob den Blick und las zum ersten Mal die Worte:

„Sie sind da! Außerirdische nehmen Kontakt mit der Erde auf. NASA bestätigt Empfang eines Faxes (!) aus dem Weltall.“

Pierre gluckste verblüfft. Auf n-tv waren die Moderatoren vor „Breaking-News“-Bannern kaum noch zu sehen. Als versuchte man, ihre fassungslosen Mienen zu verbergen.

„Die NASA Pressemeldung war noch etwas vorsichtig“, sagte die blonde Nachrichtensprecherin. Sie las von einem Blatt ab: „Es ist keine irdische Quelle bekannt, die eine direkte Einspeisung eines Faxes in einen Satelliten, wie sie vor zwei Tagen vorgefallen ist, erlauben würde, oder die die vorliegenden Messwerte des Satelliten erklären könnte.“

Die Blondine blickte Pierre direkt in die Augen: „Sollte sich das bewahrheiten, werden wir soeben Zeugen eines historischen Moments. Außerirdische haben uns Menschen kontaktiert. ScienceFiction-Filme, die Träume von Generationen gehen in Erfüllung: Wir sind nicht mehr alleine.“

„Hoffentlich nicht die Albträume“, warf ihr Kollege ein. „In ihrem Fax betonen sie ausdrücklich ihre friedvollen Absichten, aber inwiefern man diesen Worten Glauben schenken darf, ist zurzeit noch nicht absehbar.“

Pierre saß wie versteinert vor dem Fernseher. Sein Blick schweifte durch die Wohnung. Träumte er? Langsam griff er nach dem iPad. Auf Facebook, Twitter, orf.at: überall Fassungslosigkeit. Er musste etwas posten. Er wollte unbedingt etwas sagen, mit jemandem sprechen, seine Stimme sich überschlagen lassen in aufgeregten Purzelbäumen. Sie hatten ein Fax geschickt, ausgerechnet ein Fax. Was konnte man dazu schon posten? Er gluckste wieder.

Vera

Vera fröstelte in ihrem ärmellosen Leinenkleid, dreiundzwanzig Meter unter dem kühlen Wasser des Donaukanals. Jede U-Bahn presste einen neuen Schwall eisiger Luft in die Station. Kälte, gewonnen aus elektrischem Strom, für den irgendwo Auen zubetoniert, Plutonium gespalten oder CO2 in die Atmosphäre gejagt wurde. Nur damit sie hier bei einer Außentemperatur von zweiunddreißig Grad frieren musste.

Sie war für einen warmen Sommerabend gekleidet, nicht für diese zugigen Katakomben. Das Kleid trug sie für Daniel. Er mochte es, weil es ihr eigentlich zu kurz war. Eine dänische Freundin aus ihrer Greenpeace-Zeit hatte es ihr vor vielen Jahren zum Geburtstag genäht. Am oberen Ende, wo Veras feuerrote Locken den Stoff berührten, säumte den grauen Leinenstoff ein buntes, handgesticktes Muster.

Insgeheim wusste Vera, dass weder die Klimatisierung noch das kurze Kleid ihre Gänsehaut verursachte. Vera fror nicht so schnell. Eigentlich. Denn seit dem 13. Juni ließen regelmäßig Frostattacken ihren Körper erzittern, bei jeder Temperatur. Sie verursachten physische Schmerzen. Nicht im Bauch oder im Kopf, wie man vermuten mochte, sondern in ihren Knochen. Als drohten sie, spröde vor Kälte, jeden Moment zu brechen.

Zunächst hatte sie die Schmerzen für eine aufkommende Grippe gehalten. Es dauerte drei Tage, bis sie bemerkte, dass sie immer dann fror, wenn sie Daniel anrief. Jedes Mal, wenn sie die Wohnungstür aufsperrte. Jedes Mal, wenn sie irgendwo auf ihn wartete.

Sie konnte sich nicht erinnern, so etwas früher empfunden zu haben. Als Kind lief sie mit Freunden nächtens durch den stockfinsteren Wald, als Teenager knöpften ihr ältere Burschen im Auto die Hose auf. Sie sprang aus Flugzeugen und verbrachte vier Tage in einem norwegischen Gefängnis. Nie hatte sie so gezittert. Das Gefühl, das sie ihr Leben lang für Angst gehalten hatte, war bloß ein wohliger Adrenalin-Schauer. Sie liebte diese euphorische Stimmung, das Gefühl, stärker als alle anderen zu sein. Vera hatte immer geglaubt, sie liebte die Angst. Bis das ohnmächtige Bangen um Daniel begann. Erst da wusste sie, was Angst war. Würde er da sein? Würde er ihren Anruf annehmen? Würde er kommen?

Vera jagte eine Runde über den Bahnsteig, um sich warm zu halten. Immer nur so weit, dass sie die Rolltreppe im Blick behalten konnte. Daniel verspätete sich selten, und es blieben ihm auch jetzt noch zehn Minuten bis zur vereinbarten Zeit. Vera war zu früh gekommen. Sie hatte es dank ihrer Nervosität nicht mehr daheim ausgehalten.

Dann war er da. Vera erkannte die grasgrünen FlohmarktSneakers auf der Rolltreppe. Zentimeter für Zentimeter glitten seine Jeans in ihr Blickfeld, sein langer Oberkörper, aufrecht wie immer, kerzengerade mit selbstbewussten Schultern. Dann sein dunkelbrauner Vollbart, die graugrünen, aufmerksamen Augen und seine verstrubbelten Haare. Daniel Degenhorst hatte die Ausstrahlung eines Rockstars. Er lächelte, als er Vera sah und lehnte lässig an dem schwarzen Handlauf, bis ihn die Rolltreppe vor ihr ausspuckte.

Vera legte die Arme um seinen Nacken und küsste ihn. Wieder stellte sie überrascht fest, dass sie beinahe gleich groß waren. Je kleiner sie sich innerlich fühlte, desto größer erschien ihr Daniel.

[..]

[Einige Stunden] später lagen sie splitternackt im Bett ihrer gemeinsamen Freundin Birgit. Daniel hatte es wieder getan: Die Tür des Schlafzimmers stand sperrangelweit offen. Es war mitten in der Nacht. Norbert und Birgit mussten jeden Moment von ihrem Auftritt heimkommen. Fast wünschte Vera sich entdeckt zu werden. Dann hätte sie ein wenig angeben können mit ihrem famosen Freund. Mit dem köstlichen Mahl, das Daniel für sie zubereitet hatte: Rote-Rüben-Carpaccio, einen duftenden Couscous-Salat mit Granatapfel und zum Abschluss eine Schüssel marmorierte Schokoladenmousse, die Vera mit ihrer Zunge sauber schleckte, nachdem Daniel und sie die luftig weiche Mousse Nase an Nase aus der Schüssel gelöffelt hatten.

Betrunken von diesem Genuss, dem Zucker in ihrem Blut, dem Nervenkitzel der Gefahr, rissen sie sich noch im Wohnzimmer die Kleider vom Leib. Daniel küsste jedes Fleckchen ihres Körpers vom Schlüsselbein bis zu den Kniekehlen, packte sie auf seinen Rücken und trug sie huckepack ins Schlafzimmer. Sie spürte seine harten Muskeln unter ihrer nackten Haut, strich über seinen gespannten Bizeps und quietschte vergnügt, als er sie auf das Bett warf. Sie fielen übereinander her wie wilde Tiere. Vera brüllte, als sie kam, vor Wonne, und um die Gefahr entdeckt zu werden noch ein wenig zu vergrößern.

Und nun schmiegte sie sich an Daniel, der auf dem Rücken lag. Ihr rechtes Bein angewinkelt über seinem Unterleib, ihr rechter Arm auf seiner sanft behaarten Brust, wo sein Herz klopfte und sie spürte, wie seine Haut eine Gänsehaut bildete, wenn sie ganz sanft darüber strich. Sie atmeten im gleichen Rhythmus und Vera fiel es schwer sich vorzustellen, jemals wieder ohne Daniel zu sein.

Sie ließ ihre Gedanken frei und sie streiften weiter zu einem undeutlichen Gefühl, das in ihr rumorte. Aufgetaucht war es, als sie durch die Wohnungstür traten. In dem Moment, als sie das Vorzimmer sah, mit dem Spiegel, auf dem immer noch die gleichen Fotos klebten, hatte sie für den Bruchteil einer Sekunde empfunden wie damals vor fünf Jahren. Wie ein gestutzter Vogel im Zoo hatte sie sich gefühlt, der sich nach Jahren plötzlich wieder an früher erinnert, als er seine Schwingen noch ausbreiten und kilometerweit über das Land gleiten konnte.

Das kitzelnde Gefühl der Aufregung, als sie heimlich an dem fremden Esstisch speisten, war ihr seltsam fremd vorgekommen. Sie überlegte, wie oft sie es in den letzten fünf Jahren empfunden hatte. Sie erinnerte sich nur an zwei Begebenheiten: heute und bei ihrem großen Coup auf St. Helena. Vor Daniel hatte es alle paar Tage gekitzelt, bei einem Sprung von der Reichsbrücke oder einer Konfrontation mit Polizisten auf einer Demo. Paradox, dass ihre Abstumpfung ausgerechnet mit Daniel begonnen hatte. Hatte sein rationales Handeln, sein präzises Planen ihre Spontaneität beeinträchtigt? Ein unverschämter Vorwurf gegen den Mann, der sich mit der ganzen Welt anlegte.

Mit einem Mal erkannte sie, dass Daniel heute verwegener war als sie. Die Ruhe, mit der er nackt neben ihr lag, hätte sie ihm nicht zugetraut. Vera wusste, dass Daniel das nur für sie tat. Sie konnte sich gut vorstellen, wie er die Risiken genau abgewogen hatte. Er hatte schon vor ihr gewusst, was ihr fehlte.

„Hast du gar keine Angst, dass plötzlich Norbert und Birgit in der Tür stehen?“, fragte Vera.

„Der Sex war es wert“, antwortete Daniel.

„Schwanzgesteuert, wie alle Typen“, sagte Vera lachend und schmiegte sich an seinen Hals.

„Bedanke dich bei der Evolution.“

„Alles, damit wir ficken und Kinder kriegen.“

„Dann los.“

„Du weißt, wieso das nicht geht“, sagte Vera.

„Es läuft doch wunderbar.“

„Trotzdem sind wir im Krieg.“

„Wir werden im Krieg sein, solange wir leben.“

„Aber was tun Baby und ich ohne dich?“

„Wieso ohne mich?“, fragte Daniel. „Ich bleibe für immer bei dir.“

„Du weißt schon.“

„Mir kann nichts passieren. Das haben wir doch besprochen. Und ich will deine mutigen, rothaarigen Weltrettergene. Ich möchte einen Kämpfer, der unseren Krieg zu Ende bringt.“ „Oder eine Kämpferin“, sagte Vera.

„Richtig. Noch besser eine Kämpferin“, sagte Daniel. „Wie dich.“

Vera drehte sich auf die rechte Seite und rollte sich zusammen. Daniel küsste sie auf das Schulterblatt und sagte leise: „Wir warten, bis du so weit bist.“

Vera antwortete nicht. Der Wecker auf Birgits Nachttisch tickte. Sie wusste, woran Daniel das Ticken erinnerte. Wie ihm die Zeit für seinen Plan zwischen den Fingern zerlief. In seiner schlimmsten Phase, als er Tag und Nacht vor dem Computer saß, hatte Daniel aus allen Uhren in ihrer Wohnung die Batterien entfernt, weil er das Geräusch nicht mehr ertrug.

Seit sie in einer tick-tack-freien Zone wohnte, registrierten auch Veras Ohren den Lärm der Zeit. Vera quälte das Ticken aus einem anderen Grund. Im Dezember würde sie achtunddreißig werden.

Beate

Fünf Tage nach dem Fax wurde Pierre zum ersten Mal in seinem Leben aus einem Club geworfen.

Schon als er die Stiegen in die „Passage“ hinunterging, fühlte er sich in seinem Lieblingsclub wie ein Fremdkörper. Die vereinzelten Gäste lungerten auf weißen Loungemöbeln und sahen aus, als würden sie noch in die Schule gehen. Nach vier Fernsehabenden auf der Couch spürte Pierre eine physische Abneigung gegen Polstersessel. Er lehnte sich an die indirekt beleuchtete Bar. Ein Blick durch den Club bestätigte seine Befürchtung, dass er als Einziger ohne Begleitung hier war.

Sogar im Tempel der Coolness lief an diesem Abend CNN. Pierre amüsierte die naive Freude, mit der sich seine Generation für die Lalaaren begeisterte. Endlich etwas, das ihnen Bedeutung verlieh: Sie durften miterleben, wie ein außerirdisches Volk die Menschheit kontaktierte. Die Welt ihrer Kinder würde eine andere sein.

Pierre verfolgte auf dem Flatscreen über der Bar zum ersten Mal im Leben eine Tagung des UN-Sicherheitsrats. Im Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York würde in wenigen Minuten die offizielle Antwort der Menschheit an die Lalaaren verlesen werden. Fünf Tage lang hatten Heerscharen von Diplomaten an der ersten Nachricht gefeilt.

Mittlerweile verkam die Erklärung zu einem reinen Formalakt. Die Könige, Präsidenten und Premierminister waren längst mit ihren Botschaften vor die Kameras getreten. Pierre fragte sich, was die Lalaaren mit diesem Wirrwarr anfangen würden. Ob dort weitere tausend Diplomaten arbeiteten, die das Durcheinander von der Erde für die Entscheidungsträger ihres Planetensystems aufbereiteten?

Mit den einleitenden Floskeln würden sie sich nicht schwer tun. Alle Politiker glänzten mit höflichen Willkommensgrüßen und Plädoyers für Frieden. Schwieriger wurde es, wenn der russische Präsident die Lalaaren in seiner Rede über die Machtverhältnisse auf der Erde und den zum Scheitern verurteilten amerikanischen Imperialismus aufklärte. Oder wenn Dutzende Staatsoberhäupter ihre Länder als den perfekten Ort für eine Lalaaren-Basis auf der Erde anpriesen. Der iranische Präsident bot ihnen hundert Millionen Barrel Rohöl als Willkommensgeschenk, China wollte ein gigantisches Zentrum für technologischen Austausch errichten und Russland einen Teil Sibiriens als selbstständiges autonomes Gebiet an sie abtreten. Doch der russische Präsident stellte in seiner Rede auch klar, dass Russland keine Aggression dulden würde: „Wir wollen eine friedliche Beziehung zu dem Volk der Lalaaren, betonen aber, dass wir gegebenenfalls in der Lage sind, unseren Planeten zu verteidigen.“

Die von den Lalaaren benannten Kommunikationskanäle CNN, Al Jazeera, Russia Today, CCTV, teleSUR bemühten sich um den Anschein, verantwortungsvoll mit ihrer neuen Macht umzugehen. Die sogenannten Big Five setzten Kommentatoren ein, die den Kontext der Meldungen für die Lalaaren erklärten, um ihnen die Interpretation zu erleichtern und die Rollen unterschiedlicher Politiker und Wissenschaftler zu erklären. Allerdings kommentierte Russia Today die Rede des amerikanischen Präsidenten ein wenig anders als CNN.

Der Generalsekretär der Vereinten Nationen rang eine Woche lang darum, Herr über das Chaos zu werden. Nie zuvor hatte es den Bedarf gegeben, die Erde offiziell mit einer Stimme sprechen zu lassen. Die einzelnen Staaten hatten die Position der Menschen durch ihre voreiligen Versprechungen empfindlich geschwächt. Würden die Lalaaren die individuellen Angebote einlösen, könnten sie sich auf der Erde ohne Gegenleistung nach Lust und Laune bedienen.

Nach Tagen einigte man sich, den UN-Sicherheitsrat mit der Verfassung einer Antwort zu betrauen. Dann stritt man darum, wer sie vortragen durfte. Schließlich trafen die wichtigsten Diplomaten der Welt eine weise Entscheidung: Jedes Mitglied des Sicherheitsrats sollte eine Zeile vorlesen. In letzter Sekunde verzögerte sich der offizielle Akt, weil der französische Präsident verlangte, in französischer Sprache vortragen zu dürfen. Es sei nicht einzusehen, wieso sich die Menschen durch die Lalaaren willkürlich eine bestimmte Sprache zur Kommunikation aufzwingen ließen. Nach zähen Verhandlungen erzielte man den Kompromiss, dass jedes Staatsoberhaupt die Lalaaren in seiner Sprache grüßen, der Text aber auf Englisch verlesen werde. Der Event wurde um eine weitere Stunde verschoben, damit der französische Präsident die korrekte Aussprache seines Satzes einstudieren konnte.

Samstag, dreiundzwanzig Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit, saßen die Mitglieder des Sicherheitsrates wie aufgeregte Volksschüler im Kreis und verlasen fünfzehn Sätze, in denen sie ihr Interesse an einer friedvollen Beziehung, kulturellem, wissenschaftlichem und gesellschaftlichem Austausch, am Aufbau eines diplomatischen Kommunikationskanals sowie eines interplanetaren Rechte- und Wertesystems Ausdruck gaben. Die Versprechen der Nationalstaaten wurden für nichtig erklärt. Einzig der UN-Sicherheitsrat sei bevollmächtigt, Verhandlungen über Leistungen der Menschen zu führen. Noch bevor das letzte Staatsoberhaupt gelesen hatte, verdoppelte der Iran sein Erdölangebot.

Auf die feierliche Zeremonie folgte Werbung. Nicht nur Politiker kommunizierten mit den Lalaaren. Firmen und Privatpersonen rissen sich um Werbeplätze der Big Five. Pierre konnte den Spots ohne Ton folgen. Alle Sendungen der Big Five wurden mit englischen Untertiteln ausgestrahlt, um den Lalaaren die Übersetzung zu erleichtern. Im ersten Spot stand ein smarter Afroamerikaner vor weißem Hintergrund. Er trug Jeans, ein grünes Google T-Shirt und eine dicke, rechteckige Brille: „Google bietet Menschen und allen Völkern des Universums Zugriff auf jede Information, die auf unserem Planeten verfügbar ist.“ Von beiden Seiten zog er virtuelle Objekte ins Bild: Karten, Videos, Musikstücke. „Wir ermöglichen jedem freien Zugang zum größten Schatz der Erde. Gemeinsam mit euch, liebe Lalaaren, möchten wir für euch einen einfachen interplanetaren Zugriff auf das menschliche Wissen entwickeln.

Kommt mit uns ins Gespräch. Schickt ein Fax an: 001 354 12345678.“

Der Spot sorgte seit zwei Tagen für Aufregung. Durften Unternehmen Informationen an die Lalaaren weitergeben? Welchen Bedingungen sollten Geschäftsbeziehungen mit den Lalaaren unterliegen? Die amerikanische Regierung versuchte erfolglos, den Big Five die Ausstrahlung von Werbebotschaften an die Lalaaren zu untersagen.

Als Nächstes lief Abha Sumbramaniam, die Tochter eines indischen Milliardärs, in weißem Prinzessinnenkleid durch die Brandung. In einem diamantbesetzten Bikini tauchte sie ins Meer. Die Muskeln spielten auf ihrem Rücken, während sie in den Sonnenuntergang schwamm.

„Möchtest du meinen wundervollen Planeten näher kennenlernen?“, fragte der Untertitel. „Seit meiner Kindheit träume ich von einer interplanetaren Beziehung.“ In Zeitlupe stieg Abha aus dem Meer, ihre weißen Zähne strahlten in die Kamera. „Fax deine Bewerbung an +91562345171 und ich führe dich in das Wunder der menschlichen Liebe ein.“ Einige Burschen notierten die Nummer grölend in ihren Smartphones, bevor sie wieder zu Pierre hinüberstarrten. Er hatte das Gefühl, sie machten sich über ihn lustig.

Pierre floh auf die Toilette. Aus dem Spiegel starrte ihm ein schwammiges Monster entgegen. Seine Haut glänzte weiß. In seinem karierten Hemd sah er zehn Jahre zu alt aus für diesen Club. Unsinn, sagte er sich, ein bisschen tanzen, ein kleiner Schmäh und die Mädchen würden auf ihn abfahren wie früher.

Zurück an der Bar ließ er seinen Blick über die anwesenden Frauen streifen. Eine schlanke Asiatin in schwarzem, hochgeschlitzten Kleid tanzte wie ein Model in einer Bacardi-Werbung. Am Rande der Tanzfläche tappte eine Riesin mit versonnenem Lächeln zum Beat eines Songs. Sie steckte in einer knallroten, über und über mit langen Rüschen besetzten Bluse mit tiefem Dekolletee, die aussah wie aus einem mittelalterlichen Märchen. Ihre dunkelblonden Haare hatte sie mit einer roten Masche zu einem Pferdeschwanz gebunden. Hohe Wangenknochen verliehen ihrem Gesicht etwas Spitzbübisches, konnten aber gegen die ungeschlachten Proportionen ihres Kopfes wenig ausrichten. Pierre gab ihr sechs von zehn Punkten. Sie war nicht fett, aber ihre Figur schien dafür geschaffen, einen Pflug über das Feld zu schieben. Würde man sie um ein Drittel schrumpfen, wäre sie vielleicht ganz süß.

Die Märchenfrau mit der Rüschenbluse wechselte zur Bar, um ein Getränk zu bestellen. An ihrem Arsch baumelte ein weißes Stück Papier. Sie hatte vergessen das Preisetikett von ihrer Hose abzuschneiden.

„29,90 ist aber ein tolles Angebot“, sagte Pierre. „Was ist da alles inkludiert?“

Sie zuckte ein wenig zusammen. „Wie bitte?“

„Der Preis auf deinem Hintern.“

Die Riesin griff nach hinten und wurde rot. Sie kicherte. Pierre sah eine kleine Lücke zwischen den vorderen Schneidezähnen. „Kannst du es bitte abreißen?“

Als wahrer Gentleman gehorchte Pierre solchen Befehlen widerspruchslos. Um den Stoff der Hose nicht zu beschädigen, fuhr er mit einer Hand in den Bund. Die Haut an ihrem Kreuz war von einem samtig weichen Flaum bedeckt. Pierre stützte seine zweite Hand an ihrer rechten Backe ab und riss den Zettel heraus.

„Danke, dass du mir das gesagt hast“, sagte sie. „Das Vergnügen war ganz auf meiner Seite“, antwortete

Pierre.

„Weißt du, ich habe das alles extra für heute gekauft.“ Pierre mochte ihren Salzburger Dialekt. „Wast du“, sagte sie und „i hob“.

„Wieso extra für diesen Abend?“

„Neues Leben, neue Kleider.“

„Neues Leben?“

„Die Lalaaren haben mein Leben verändert“, sagte sie. Ihre Augen leuchteten.

„Möchtest du etwas trinken?“, fragte Pierre.

„Ich? Äh. Ja. Ein Cola-Rot?“

Pierre schoss die Erinnerung an Teenagerabende am Wörthersee durch den Kopf. Cola-Rot war der Geschmack seines ersten Kusses. Mit verächtlichem Blick mischte der Barkeeper Cola und ein Achtel Cuvee vom Hill in einem weiten BordeauxGlas. Immerhin stand Pierre jetzt nicht mehr alleine an der Bar. Später konnte er sich ja immer noch dem Bacardi-Model widmen.

Sie stießen an. „Ich heiße Pierre.“

„Ich bin die Beate.“

Ray

Sie schmissen mit dem Geld um sich, als ob sie es bereits verdient hätten. Wie am Höhepunkt der Dotcom-Blase. Schon damals hatte niemand auf Ray gehört.

Die Mitarbeiter, ihre Familien, die Investoren, die Prominenten der Space Industry und die heuer erstmals zum Picknick eingeladenen Journalisten drängten sich auf dem penibel gestutzten Rasen des Florida Falcon Fire Golfclubs. Vor dem strahlend weißen viktorianischen Clubhouse hatte man sogar eine Bühne aufgebaut. In den Jahren zuvor hatte das „WorldSat Company Picknick“ auf dem Sportplatz der öffentlichen Schule stattgefunden.

Kellner trugen Tabletts mit blutrotem Himbeersekt durch die Menge. Noch nie hatte es auf dem Picknick Alkohol gegeben, nur Softdrinks, die man sich an einem der Schultische aus Kunststoffflaschen selbst einschenken musste. Ray überlegte, ob sie damit die externen Gäste beeindrucken wollten oder ob sie wirklich so dumm waren, vor ihren Mitarbeitern mit ihrem neuen Reichtum zu protzen. Ray freute sich schon auf seine nächste Gehaltsverhandlung.

Die Sonne brannte vom Himmel wie jeden Tag. Bald würden die Erwachsenen in das klimatisierte Clubhouse flüchten oder im Pool Cocktails trinken und nur noch die Kinder draußen herumtollen.

Um Punkt neun Uhr betraten Ben und Jerry in Sneakers und T-Shirt die Bühne. Man nannte sie „The Twins“. Obwohl sie nicht verwandt waren, konnte man sie aus zehn Metern Entfernung nicht unterscheiden. Ben Morgenreich und Jerry Fin hatten WorldSat vor siebzehn Jahren gegründet und besaßen gemeinsam siebenundzwanzig Prozent der Aktien. Die Kursexplosion der letzten Wochen hatte sie damit im Alter von siebenundvierzig Jahren zu Milliardären gemacht. Sie segelten leidenschaftlich gerne, obwohl ihre Teilnahme an Katamaranregatten regelmäßig im Fiasko endete. Mit ihren braun gebrannten Gesichtern, den schlanken Körpern und dem ewig blitzenden Lächeln wirkten sie gesund, stark und zufrieden. Heute lächelten sie noch breiter.

Ray gönnte ihnen ihren Erfolg. Sie arbeiteten hart, trafen oft gute Entscheidungen und übertrugen den Mitarbeitern ein akzeptables Maß an Verantwortung. Natürlich sah Ray, dass man vieles besser machen konnte, aber scheinbar genügte ihre Performance, um im Spitzenfeld der Satellitenindustrie mitzuspielen. Es war nicht Neid, der Ray an diesem Tag verstimmte. Ray war besorgt. Äußerst besorgt über die Naivität, mit der man dieser Lalaaren-Geschichte begegnete.

Rays Frau Bonny und seine fünfjährige Tochter Mia spielten mit den anderen Kindern irgendwo auf dem Rasen. Ray trug als einziger einen der Ansteck-Buttons auf der Brust, die sie am Eingang verteilten, und auf den er in seiner präzisen, leicht geneigten Schrift „Ray Damanis – Chief Software Architect“ geschrieben hatte. Mit einer energischen Bewegung wehrte er einen Kellner ab, der ihm ein Glas Sekt anbieten wollte. Seine umstehenden Kollegen ignorierten Rays demonstrative Missbilligung des Picknicks. Sie schätzten ihn für seine Intelligenz und achteten seinen Fleiß. Sobald man ihn von der Schwierigkeit eines Problems überzeugt hatte, verbiss Ray sich solange darin, bis er es gelöst hatte. Ansonsten versuchte man Ray besser aus dem Weg zu gehen. Rays Perfektionismus vertrug sich nur selten mit effizienter Softwareentwicklung in einem gewinnorientierten Unternehmen.

„Willkommen auf unserem Company Picknick“, rief Ben auf der Bühne in das Mikrofon.

„Wir hoffen, die Location ist halbwegs okay für euch“, sagte Jerry. Die Menge johlte.

„Also ich vermisse ein wenig diesen Sporthallengeruch“, feixte Ben, „geht euch der gar nicht ab?“

„N-E-I-N“, brüllten seine Mitarbeiter.

„Mit diesem Picknick möchten wir uns bei euch bedanken. Natürlich waren eure Leistungen auch in all den Jahren herausragend, in denen wir auf dem Sportplatz gepicknickt haben.

Doch heuer ernten wir die Früchte unserer Arbeit.“

„Die Früchte“, übernahm Jerry wieder, „jener Samen, die wir jeden Tag mit unserer Forschungsarbeit legen. Die Früchte dafür, dass wir konsequent in unser Knowhow investieren. Wir können nie sicher sein, welche R&D-Projekte sich später kommerziell verwerten lassen. Wir alle gehen ein Risiko ein ...“

„... aber ihr habt an den Weg geglaubt. Unsere Investoren Microdyn Inc. und FintecInvest haben daran geglaubt. Und wir haben daran geglaubt. Forschung bereitet uns jeden Tag einen Riesenspaß. Es erfüllt uns, die Welt ein kleines Stück voranzubringen. Und wir versprechen euch: Ihr werdet nie aufhören zu forschen, solange ihr Teil dieser wunderbaren Familie seid. Heute ist der Zeitpunkt gekommen, an dem die Welt auf unser Wissen und eine ganze Reihe unserer Patente zurückgreift. Ein großes Dankeschön an euch, an unsere Investoren und last but not least an die LALAAREN!“

Rays Kollegen applaudierten wie besessen. Ray schnaubte verächtlich, aber bewegte die Hände leise mit.

„Ihr könnt es wohl gar nicht erwarten, endlich in die Golfcarts zu steigen ...“

„... oder in den Pool zu springen ...“, warf Jerry ein.

„... deswegen möchten wir euch nicht länger aufhalten, sondern einen Mann auf die Bühne bitten, der zurzeit weltweit im Rampenlicht steht. Es ist uns eine besondere Ehre, dass er sich heute für uns Zeit genommen hat. Hier ist das höchste Tier der NASA: Administrator William Shapiro.“ Wieder tosender Applaus. Shapiro, der Ray mit seiner weißen Stoppelglatze immer an eine dicke Version von John McCain erinnerte, betrat die Bühne.

Keuchend rief er ins Mikrofon: „Was für ein Tag! Was für ein aufregendes Jahr! Wisst ihr, ich sehe die Ereignisse der letzten Wochen mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Das weinende erinnert sich an einen Abend vor vielen Jahren, als Ben und Jerry mich fragten, ob ich mit ihnen ein auf Satellitentechnologie spezialisiertes Unternehmen gründen wolle.“

Shapiro machte eine Kunstpause. Einige im Publikum lachten. „Hätte ich damals mit ihnen WorldSat Corporation gegründet, wäre ich heute so reich wie sie. Obwohl ...? Wer weiß, ob ich den Mut gehabt hätte, den Ben und Jerry hatten. Den Mut, so viel in Forschung zu investieren! In Patente für satellitenbasierte Verteidigungssysteme! Ob nicht auch ich gesagt hätte: Leute, habt ihr zu viel Star Wars geschaut? Und nun seht euch dieses Stockchart an.“

Er enthüllte ein Plakat, das den raketenhaften Anstieg der WorldSat-Aktien zeigte. Der Kurs hatte sich seit dem ersten Fax der Lalaaren verzehnfacht. Wieder Applaus, der größte bis jetzt. Ray sah das gierige Glitzern in den Augen seiner Kollegen. Obwohl sie das Ergebnis längst auswendig kannten, multiplizierten ihre Köpfe noch einmal den Kurs von 172,5 Dollar mit der Anzahl ihrer Mitarbeiteraktien. Jeder Einzelne von ihnen.

„Nein, ich will nicht behaupten, dass ich diesen Mut gehabt hätte. Dabei sind diese Tage auch als NASA-Administrator ein unvergessliches Erlebnis. Auch wir mussten in den letzten Jahren um das Budget für Grundlagenforschung kämpfen. Auch wir mussten rechtfertigen, wieso wir Milliarden von Steuergeldern dafür ausgeben, in das Weltall zu fliegen. Jetzt kennen wir die Antwort.

In einigen Jahrzehnten wird niemand mehr von einem globalisierten Planeten sprechen, sondern von einer intergalaktischen Gesellschaft. Und jeder von euch wird einen wichtigen Beitrag dazu geleistet haben.

Ich möchte euch für die ausgezeichnete Zusammenarbeit in den letzten Wochen danken. Ihr seid die Schnittstelle zu den Lalaaren und sie hätten sich für ihr Fax keinen besseren Satelliten aussuchen können als WorldSat 707. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie froh ich bin, die Analysen und Authentifizierungen der Faxe mit einem Team hochqualifizierter Amerikaner durchzuführen und nicht mit irgendwelchen chinesischen Anfängern. Danke, danke, danke! Und nochmals Gratulation zu dieser Performance.“ Er deutete auf das Stockchart, hob die kurzen Arme und schlug sie über seinem Kopf zusammen. Langsam folgten die Menschen seinem Beispiel, bis die ganze Firma mit hoch erhobenen Händen im gleichen Rhythmus applaudierte. „Ben-und-Jerry“-Sprechchöre ertönten. Die beiden Vorstände liefen auf die Bühne und fielen in den Rhythmus ein. Es sah aus, als würden sie jeden Moment zu heulen beginnen. Wie eine verdammte Sekte! Ray ließ die Hände sinken. Die anderen klatschten und klatschten. Vermutlich wäre das ewig so weitergegangen, hätte nicht irgendjemand Erbarmen gehabt und die Musik aufgedreht.

Marcus klopfte Ray auf die Schulter. „Na, was hat dich gebissen? Hast du alle Aktien verkauft oder warum machst du so ein Gesicht?“

„Der Kurs wird nicht halten.“

„Dann verkaufe.“

„Nachdem ich diesen Affenzirkus hier gesehen habe, mache ich das noch heute.“

„Ray glaubt, dass Ben und Jerry sich die Außerirdischen nur ausgedacht haben, damit sie hier eine coole Party schmeißen können“, erklärte John McOwen. Ray entging der Blick nicht, den John und Marcus sich zuwarfen. Daran war er gewöhnt.